Montag, 13. August 2012

Zeitunglesen

Ich stehe am Isartor. Es ist Nachmittag, ich komme gerade aus dem Globetrotter und warte an eine Fußgängerampel. Mir fällt eine Verkehrsinseln auf. Mitten in der Kreuzung. Kein offizieller Zugang für Fußgänger oder Radfahrer. Ein Un-Ort. Laut, ständig umspült vom Verkehr, ca. 6 Meter lang und vielleicht einen Meter breit. Ich bleibe eine Weile stehen und beobachte den Verkehr. Vier Spuren auf jeder Seite. Ständig fahren oder stehen Autos, die geradeaus fahren oder links abbiegen wollen. Eine komplizierte Ampelschaltung.

Dieser Fleck hat Aufmerksamkeit verdient. Die Idee: Verweilen. Einfach, weil dieser Ort so gar nicht dazu einlädt. Auf dem Heimweg überlege ich. Stück für Stück entsteht ein Bild: Ein Mann auf einem Stuhl. In Anzug mit Hut. Er liest Zeitung. Neben ihm ein Beistelltisch mit einer Tasse Tee oder Kaffee.


© Albert Kapfhammer

Die Requisiten dazu habe ich Zuhause. Einen Stuhl mit Trageriemen und einer Schublade. Der stammt von einem Performance-Konzept von Bernhard Eberle, einem befreundeten Kunstdrucker und Performancekünstler. Einen kleinen, weißen, klappbaren Beistelltisch für den Balkon samt weißer Tischdecke. Tasse, Thermoskanne mit Tee, Zeitung. Fertig.
Ich mache mich auf den Weg, den Stuhl auf dem Rücken, die Utensilien in der Schublade verstaut. Den Tisch trage ich. Zur U-Bahn, zum Marienplatz, in die S-Bahn und zum Isartor. Hoch an die Oberfläche und während einer Verkehrslücke auf die Verkehrsinsel.

Langsam und bewusst baue ich den Tisch auf, nehme Tischdecke, Tasse, Thermoskanne und die Zeitung aus der Schulblade im Stuhl, lege alles ordentlich hin, gieße mir Tee ein und stelle die Thermoskanne auf den Boden zwischen Stuhl und Tisch. Ich setze mich, schlage die Beine übereinander, nehme die Zeitung, schlage sie auf und beginne zu lesen.
Jetzt merke ich, wie nervös ich bin. Zum Lesen komme ich immer nur abschnittweise. Dann muss ich mich wieder auf meine Präsenz konzentrieren. Nach ein paar Minuten gebe ich das Lesen auf. Immer wieder – nicht zu oft – blättere ich um, lasse meinen Blick über die Zeitung wandern und „spiele“ einen Zeitungsleser. Das hat den Vorteil, dass ich auch ohne Blickkontakt aufnehmen zu müssen (das will ich nicht, weil es das Bild zerstören würde) wahrnehme, was um mich herum passiert.


© Albert Kapfhammer

Mir fällt ein, dass ich meine kleine Digitalkamera eingesteckt habe und ich stelle sie auf den Tisch, starte im Filmmodus. Erst danach, beim Ansehen des kurzen Videos (leider war die Speicherkarte nach ein paar Minuten voll) wird mir bewusst, wie nah ich am Verkehr sitze. Und wie viele Menschen dann doch schauen...

Immer wieder kommt es zu kurzen Dialogen. „Wie wird das Wetter morgen?“ ruft mir ein ca. 40 Jahre alter Mann aus einem roten Kleinwagen zu. „Gut!“ rufe ich zurück. Er lacht und fährt weiter. „Eine Kunstaktion, oder?“ „Ja“ ist der Austausch zwischen einem anderen Autofahrer und mir. „Wie isses?“ fragt eine Frau in einem Smart. „Gut, gut! Anders!“ Zu mehr komme ich nicht, sie muss weiter, die Ampel ist grün. 


© Albert Kapfhammer

Hinter mir hält eine Frau, zieht ihr iPhone und fotografiert. Ob ich die Zeitung nicht ein bisschen Höher halten könne? Kann ich. „Mehr mittig!“ Sie sei nämlich Fotografin. Ich drehe mich um und gebe ihr meine Karte: ob sie mir ein Bild schicken könne, ich hätte nämlich sonst keine. „Klar!“. Dann wird es grün, die Autos hinter ihr hupen, sie fährt weiter. Davor hat ein Radfahrer gegenüber angehalten und fotografiert. Auch ihn habe ich gefragt, ob er mir ein Bild schicken könnte. „Klar! Wohin?“ Ich hole eine Karte aus der Sakkotasche, laufe über die Straße, gebe sie ihm und laufe dann schnell wieder zurück. Er bleibt noch eine Weile stehen. Ich bin gespannt ob einer von beiden mir tatsächlich ein Bild schicken wird. Noch während ich das hier schreibe habe ich eine SMS auf dem Telefon: er habe die Bilder per Webdownload bereitgestellt. Ich freue mich.


© Albert Kapfhammer

Auch unvermeidlich an einer so zentralen Kreuzung: Immer wieder fährt Polizei vorbei. Sie scheinen alle so zu stehen, dass sie nicht direkt vorbeifahren können oder müssen. Wie schon beim letzten Mal gilt: wenn ich dazu aufgefordert werde, gehe ich. Ich will nicht provozieren. Das Hupen der hinteren Autos, wenn die vorderen nicht merken, dass die Ampel wieder auf Grün geschaltet hat, weil sie mich anschauen ist mir schon unangenehm genug. Nach ungefähr einer halben Stunden fährt eine Streife direkt an mir vorbei. Ich kann nicht anders, als ihnen hinterher zu schauen. Prompt machen sie an der nächsten möglichen Stelle kehrt und fahren jetzt direkt auf der Spur hinter mir vorbei. Kurzer Blaulichteinsatz. Ich weiß, jetzt kann es zu ende sein. Ich drehe mich nicht um, sondern lese weiter Zeitung. Sie machen wieder kehrt und bleiben diesmal genau vor mir stehen. Das Fenster geht runter.

Was ich hier tue, fragt mich ein freundlicher Polizist (ich bin erleichtert, dass tatsächlich Neugierde in seiner Frage mitschwingt). Neben ihm eine Kollegin. „Das ist eine Kunstaktion im öffentlichen Raum.“ Sage ich wahrheitsgemäß. Er schaut mich fragend an. „Ich verändere die Wirklichkeit für eine kurze Zeit. Bringe ein Bild in den öffentlichen Raum, das ungewöhnlich ist. Hier würde ja keiner Zeitung lesen...“. „Stimmt, deswegen sind wir ja neugierig geworden“ sagt er lächelnd. Ich bin mir immer noch nicht sicher, wie seine Reaktion ausfallen wird. Auf seine und ihre Fragen hin erkläre ich den beiden, dass das ganze von „urban absurdity“ ausgeht, einer Performance und Künstlergruppe, die temporäre Kunst im öffentlichen Raum machen, dass es die einzige Aktion ist, die gerade läuft und dass es nicht aufgezeichnet wird (was in diesem Moment zum Glück stimmt, denn die Kamera hatte ich schon weggeräumt, nachdem sie sich mit vollem Speicher verabschiedet hatte); dass ich seit 20:00 Uhr da säße und spätestens um 21:00 Uhr aufhören würde, weil es da ja dunkel werde. Kurze Pause. „Na dann“ sagt er, „viel Spaß noch!“ Ich bedanke mich und vertiefe mich wieder in meine Zeitung. Sie stehen noch kurz direkt neben mir, bis die Ampel grün wird und fahren dann weiter.


© Albert Kapfhammer

Ich bin erleichtert und merke wie angespannt ich während der ganzen Unterhaltung war. Ungefähr eine viertel Stunde später kommen sie noch einmal. Ich lächle sie an, sie fahren vorbei.

Gegen 20:45 Uhr ist es so dämmrig, dass Zeitung Lesen nicht mehr funktioniert. Ich packe langsam alles wieder in die Schublade im Stuhl, schultere ihn, nehme den Tisch und gehe über die im Augenblick lehre Fahrbahn zurück zum Isartor.


© Albert Kapfhammer

Irgendwie bin ich sehr erleichtert. Ich dachte, dass das eine vollkommen „ungefährliche“ Aktion sein würde. Deswegen hatte ich auch niemanden gebeten, mich zu beobachten. Jetzt erst merke ich, dass zwar immer eine Schicht Blech und der Zwang zügig weiter zu fahren zwischen mir und den Beobachtern im Auto stand, dass es aber doch eine sehr ausgesetzte Situation war. Die Menschen, die in der angrenzenden Fahrspur bei rot warteten, waren weniger als einen halben Meter von mir entfernt. Wären Sie nicht im Auto gesessen sondern nur so dagestanden und hätten geschaut, wäre mir das viel zu nah gewesen. Außerdem wusste ich nie genau, wer gerade auf der Fahrspur direkt hinter mir stand und wie diese Menschen schauten und reagierten. Auch das wird mir erst bewusst, als ich mich beim Weggehen umdrehe und sehe wie nah die Menschen mir im Rücken standen.




Jetzt, zwei Stunden später, schaue ich mir die Bilder an, die ich per Webdownload bekommen habe und freue mich, eine Außenperspektive zu haben. Ich schreibe eine SMS zurück, ob ich sie auf meiner Website verwenden darf. Ich darf. Danke.


Eher meditativ: ein paar Eindrücke aus meiner Perspektive...


© Text: Tom Tiller, München.
© alle Bilder: Albert Kapfhammer, München.

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