Donnerstag, 3. Mai 2012

Reichbetteln

Kniend, in Anzug und Krawatte, teure Schuhe, offensichtlich gut gelaunt, ein schlecht geschriebenes Pappschild mit der Bitte um Hilfe vor sich, obwohl man offensichtlich weder arm ist noch Hilfe nötig hat und das in der reichsten Straße Münchens. Was passiert? Wer reagiert? Und wie? Das ist die Ausgangsidee.


3. Mai 2012, 11:00 Uhr, ich setze mich hin. Davor hat mich Susie Wimmer unterstützt, die richtigen Worte für das Schild zu finden: "BITTE" und dann klein weiter "geben Sie mir kein Geld! Kunst!". Ich wollte mehr schreiben, aber die Kürze ist gut. So haben Passanten die Möglichkeit, das Schild im Vorbeigehen zu lesen. Es ist klar, und bleibt doch offen genug.


Nach wenigen Minuten hält der erste an. Er spricht kaum Deutsch, fragt neugierig nach. Ich bin gezwungen zu entscheiden, wie ich reagieren will. Ich entscheide mich, freundlich und ehrlich zu sein; keine "Rolle" zu spielen. Das ist nicht das Ziel der Aktion. Wie sich später herausstellt eine gute Entscheidung. Ein weiterer Bruch, denn die offene, friedliche Art geht bei vielen weder mit Betteln noch mit Kunst zusammen. "Hast Du Arbeit?" "Ja!" "Warum sitzt Du hier?" Ich versuche es ihm zu erklären. Es dauert eine Weile. Nachdem er verstanden hat, was ich tue, schaut er mich lange an und fragt dann: "Kennst Du Jesus?" ich nicke. "Jesus ist wahre Kunst!" sagt er, verabschiedet sich freundlich und geht weiter.


10 Meter links von mir steht plötzlich eine Gruppe von 3 Polizisten. Ich schaue fragend auf die andere Straßenseite, wo Susie Wimmer sitzt, die sich bereit erklärt hat als eingeweihte Beobachterin mitzumachen. Die Vereinbarung: nur eingreifen, wenn es wirklich brenzlig wird. Bei Gewalt etwa. Ich bin das erste mal froh, dass sie da ist und ich Kontakt aufnehmen kann. Von ihr kommt keine Reaktion. Das beruhigt mich. Die Polizisten schauen in die andere Richtung. Mir ist klar, dass die Aktion sehr schnell zu Ende sein kann. Ich hatte beschlossen, nicht in den Widerstand zu gehen. Wenn mich jemand auffordert würde zu gehen, ginge ich anstandslos. "Schade", denke ich mir, wenn es jetzt gleich wieder vorbei ist. Immer wieder schaue ich zu den Polizisten. Die schauen weiterhin in die andere Richtung. Nach ca. 10 Minuten überqueren sie die Straße und gehen weg. Wenn sie auf meiner Straßenseite geblieben wären, hätten sie direkt an mir vorbei müssen. Das wollten sie offensichtlich nicht. Ich bin froh. Es geht weiter.


Viele gehen vorbei ohne Blickkontakt mit mir aufzunehmen. Ich lasse den Leuten immer Zeit, das Schild zu lesen, bevor ich sie anschaue. Die meisten schauen in dem Moment, in dem ich sie anschaue, sofort weg. Mit unterschiedlichen Gesichtsausdrücken. Weil ich sie sehr spät ansehe, weiß ich nie, was sich ab dem Zeitpunkt abspielt, ab dem sie mich wahrnehmen. Wie ich danach von Susie und Christine Bombosch (die auch zum Zuschauen gekommen ist) erfahre, ist es bei den meisten sehr ähnlich: Sie nehmen mich war, die Miene versteinert sich, sie gehen vorbei und schauen starr nach vorne, sobald ich den Blickkontakt suche. Einige gehend murmelnd oder kopfschüttelnd weiter, Paare tauschen sich mit verständnisloser Miene aus. "das ist doch keine Kunst. Der will uns wohl verarschen!" sagt ein Paar hörbar.


In den gesamten 45 Minuten gehen etwa 10 Menschen vorbei, die sich trauen, den ganze Text in Ruhe zu lesen. Sie lächeln und gehen weiter. Beim Rest erkenne ich in der Bewegung oft den Zwiespalt, stehen bleiben zu wollen und genau zu schauen und dem Impuls nachzugeben, weiter zu gehen; ich vermute, weil die Situation auf den ersten Blick nicht "einzuordnen" ist. Das ist gefährlich. Ich bleibe freundlich, egal was passiert. Obwohl es immer wieder eine Stimme in mir gibt, die sagt: Du musst die Menschen viel stärker und aktiver reizen. Ich widersrstehe. Nur so haben sie ein Chance selbst zu entscheiden, wie sie auf den Anblick reagieren wollen.


Mutter und Tochter kommen vorbei und bleiben stehen. Nach ca. 25 Minuten die zweiten, die neugierig sind und nachfragen. Ich erkläre wieder geduldig, was ich hier tue. Es dauert ein Weile, dann hat die ca. 12 Jahre alte Tochter Feuer gefangen: "Das mach ich auch, Mama!" Sie setzt sich in den Bogen neben mir und hält die Hände auf. Ich muss mich beherrschen, nicht laut loszulachen. Ihre Mutter scheint kein Problem damit zu haben, sie unterhält sich weiter mit mir. Ich wüsste in dem Moment gerne, was wir zu dritt für ein Bild abgeben.


Irgendwann fährt ein UPS Wagen vor und hält direkt vor mir. Der Fahrer steigt aus und schaut mich ungläubig an. Er liest das Schild, fragt nach, findet die Aktion gut. Nachdem er seine Päckchen ausgeliefert hat ratscht er noch eine Weile mit mir. Mutter und Tochter sind auch noch dabei. Er fragt ob er mich fotografieren darf. Er darf. Ob er es veröffentlichen darf. Er darf, wenn er meine URL dazu schreibt. Er schreibt sie sich auf. Dann steigt er lachend ein und fährt weiter. Nach einer Weile hat die Mutter ihre Tochter überzeugt, weiter zu gehen. Die will noch nicht: sie hätte noch nichts eingenommen. Dann will sie mir etwas geben. Ich lehne dankend ab. Die beiden verabschieden sich und gehen.


Weil ich direkt an einer Trambahn Haltestelle sitze müssen viele ganz in meiner Nähe warten. Auch der Herr, der mein Schild komplett anders deutet: "Kein Geld, sondern Kunst, hm? Und hat Ihnen schon jemand Kunst gegeben?" Er hat 5 Minuten Zeit, sich über Kunst auszulassen. "Beuys hat ja gesagt, jeder ist ein Künstler". Ich nicke. Die Trambahn kommt, er steigt ein und fährt. 


Einer der Passanten, die das Schild ganz lesen und lächeln, kommt nach einer Minute wieder zurück, legt mir 2 Euro Auf die Pappe, auf der ich knie und meint lachend: "Damit die Kunst nicht brotlos ist". Ich lache auch. Das Geld bekommt später ein Bettler.


Die meisten reagieren  verhalten neugierig und vorsichtig. Eine ca. 55 jährige Frau in einem großen, silbernen Merzedes bremst abrupt, als sie mich sieht und steht eine ganze Weile ungläubig da. Sie versucht mein Schild zu entziffern. Ich gebe mir keine Mühe, es ihr leichter zu machen, schaue sie nur freundlich an. Immer wieder fährt sie ein paar Zentimeter weiter und schaut wieder ungläubig. Nach einer Minute fährt sie kopfschüttelnd weiter. Es macht mir richtiggehend Freude die Leute vollkommen freundlich anzusehen, sie aber nicht bei der Einordnung der Situation zu unterstützen. Sie müssen schon fragen. Radfahrer schauen sekundenlang nicht nach vorne beim vorbeifahren. Wenn Trambahnen halten, starren mich die Fahrgäste mit regungsloser Miene solange an, bis die Trambahn wieder anfährt und ich sie nicht mehr sehe. Ich schaue freundlich zurück. 


Nach 45 Minuten klingelt mein Telefon. Ich hatte es so eingestellt. Ich tue so, als würde ich ran gehen. Susie hat später einen Termin und ich möchte unbedingt noch mit ihr und Christine reden, um zu erfahren, wie es von außen gewirkt hat. So ist die Zeit begrenzt. Auf der einen Seite finde ich es schade, als die Zeit um ist, weil es viel zu spannend ist, um aufzuhören. Auf der anderen Seite bin ich froh und merke jetzt erst, wie sehr die Aktion mich anstrengt; wie konzentriert und angespannt ich bin. Ein Teil von mir war die ganze Zeit damit beschäftigt sicher zu stellen, dass ich friedlich bleibe, Kontakt zulasse und keine Zweifel aufkommen lasse.


Ich stehe auf, packe meine Pappe zusammen und gehe erleichtert um die Ecke. Dort warten Susie und Christine. Die Spannung fällt ab.



Wir sitzen eine halbe Stunde im Café und unterhalten uns. Über die möglichen Ängste, die die Aktion bei Menschen ausgelöst haben könnte. Über die unterschiedlichen Reaktionen. Über die wenigen Passanten, bei denen ich mich nicht wohl gefühlt habe; die, von denen ich vermute, dass sie selbst sehr arm sind aber nie betteln würden. Denen will ich sagen: "Ich mache mich nicht über Euch lustig!", sage aber natürlich nichts. Darüber, dass ich mich bei vielen Passanten dabei ertappe, wie ich Annahmen anhand ihrer Kleidung, ihrer Autos, ihres Verhaltens bilde...

Die drei Polizisten vom Anfang gehen am Café vorbei. Sie erkennen mich. Ich schaue sie lächelnd an, sie schauen mit versteinerter Miene weg. Ich stelle fest, dass ich nie herausfinden werde, was die Menschen wirklich empfunden und gedacht haben bei meinem Anblick. "Damit musst Du leben!" sagt Susie lachend. Stimmt! 

Susie gibt mir meine Kamera zurück, mit der sie Fotos gemacht hat. Wir verabschieden uns. 
Die Aktion ist zu Ende.

Text: Tom Tiller
Alle Bilder: Susie Wimmer
© Bilder: Susie Wimmer & Tom Tiller

Danke an Susie für die Unterstützung, die richtigen Fragen, die Außenreferenz und die Fotos.
Danke an Christine für die Unterstützung und den Austausch.