Montag, 22. Juni 2015

250 €

Was schreibt man über eine solche Performance. Es war die krasseste, die ich bisher gemacht habe, obwohl sie ziemlich „einfach“ war. Ich hätte nicht gedacht, dass es so emotional wird.

Direkt nach der Performance sitze ich im "Backstage" Bereich und muss mich minutenlang beruhigen. Ich bin extrem aufgebracht, sehr angestrengt und verunsichert.

Ein Gastkünstler aus Portugal kommt in den durch ein Absperrband getrennten Bereich, sieht mich und gibt mir -zum Glück- sehr gutes Feedback. Schildert mir seine Beobachtungen im Publikum und gibt mir das Gefühl: einer hat diese Performance verstanden und genommen. Und nicht nur das, sondern sich der Situation ausgesetzt, sie wirken lassen, sich selbst bemerkt in dem was passiert ist. Es gibt mir den Mut doch daran zu denken, mich unter die Leute zu mischen. Ich bin ihm dankbar. Dann kommt meine Lebensgefährtin und meint, ich müsse unbedingt wieder kommen; es sei schade, dass ich die Diskussionen und Auseinandersetzungen direkt nach der Performance nicht mitbekommen hätte. Ich gehe und mische mich unter die Leute. Es wird kontrovers diskutiert.

Was war in den letzten 30 Minuten passiert?

Im Rahmen des von Christian Öttinger organisierten „Open Art Festivals Munich“ (OFF) habe ich eine Performance gegeben mit dem Titel "250€". Die Idee steht schon lange. Und ich habe sie mit unterschiedlichen Menschen diskutiert und gute Ideen bekommen; von Martin Ostenrieder, von Christine Bombosch, von anderen. Was bleibt ist schlicht: Ein Mann im Anzug, barfuß zerreißt vor den Augen des Publikums 50 Fünf Euro Scheine.

Ich sitze eine Stunde vorher im Backstage Bereich und habe den Haufen Scheine vor mir liegen. Ich schaue ihn an. Ich bin verunsichert und nervös, obwohl es keine Frage ist, dass ich es tun werde. Außer der Aktion ist alles offen. In der Stunde wird mir klar, dass ich das Geldbündel nicht festhalten werde, während ich einen Schein nach dem anderen zerreiße. Ich werde den kleinen Stapel vor mich legen in vollem Bewusstsein, dass es ein Angebot an das Publikum ist, einzuschreiten. Ich mahle mir die verschiedenen Möglichkeiten der Intervention durchs Publikum aus und frage mich: von welchem "Ort" aus werde ich reagieren? Natürlich vom Ort des Performers aus. Aber was heißt das in diesem Fall genau? Egal was sein wird steht für mich fest: Ich zerreiße Geld, es passiert etwas, ich lass es wirken, ich nehme es mit in die Performance rein. Keine schnellen Reaktionen; stattdessen "performerische" Antworten. Später werde ich froh sein um die genaue Vorbereitung.



Außerdem stecke ich ein Messer ein, ohne zu wissen ob oder wie ich es brauchen werde. Was ich mich absichtlich nicht frage: wie werde ich die Scheine zerreißen? Wie schnell wird es gehen? Werde ich es im Kontakt mit dem Publikum machen oder für mich - und mich damit als eine Art "lebende Installation" zur Verfügung stellen? All diese Informationen muss der Moment und die Situation bringen. Sonst wird es theatral, geplant, konzeptioniert. Das will ich in dieser Performance nicht.

Ich höre das vereinbarte Zeichen und gehe los. Langsam und bewusst. In Richtung der Stelle, an der ich mich positionieren werde. Ich bin überrascht, dass alle schon dort sitzen oder stehen und warten. Ich dachte, ich müsste die Aufmerksamkeit der Menschen erst bekommen und sie aus der ganzen Halle „zusammenholen“. Ca. 30 Leute sitzen und stehen im Halbkreis da und schauen mich an. Einen Teil kenne ich, einen Teil kenne ich nicht. Im Gegensatz zu sonst empfinde ich die Menschen, die ich kenne nicht als Unterstützung sondern eher als „Bedrohung“. Weil ich weiß, dass ich mit dem was ich gleich tun werde wahrscheinlich sehr viele vor den Kopf stoßen oder zumindest verstören werde. Und so wird es ja dann auch sein. Es dauert einen kurzen Moment bis ich mich klar entscheide: Ich stehe hier als Performer und es spielt für mich keine Rolle, wer die Performance sieht.

Ein Teil des Publikums weiß, was passieren wird, ein Teil nicht. Danach werden die Zuschauer sehr unterschiedliches Feedback geben. Ein Unterschied wird die Tatsache sein, dass sie es lieber gewusst oder lieber nicht gewusst hätten, froh waren, dass sie es nicht vorher wussten oder eben froh waren dass sie es vorher wussten. Für mich spielt dieser Unterschied im Moment keine Rolle

Ich stelle mich vor die Säule, die ich vorher ausgesucht hatte, greife langsam in meine Innentasche und ziehe den Stapel Geldscheine heraus. Hochkonzentriert lege ich ihn vor mich hin und schaue ihn eine Weile an. Ich bin nervös. Meine Hände zittern. Ich nehme den ersten Schein und lasse ihn in meinen Händen wirken. Spüre ihn, streichele ihn, falte ihn. Und dann: ein erstes zerreißen. Ich tue es nicht zu schnell und lasse das Geräusch, den Widerstand, die Struktur des Papiers wirken. Die Schnipsel lasse ich auf den Boden fallen. Dann der zweite Schein; der dritte.



An dieser Stelle bemerke ich, dass ich das so Schein für Schein weiter machen könnte, in erster Linie in mich selbst gekehrt. Und wahrscheinlich hätte die stete Wiederholung eine rituelle Wirkung. Aber ich bemerke auch, dass mein Interesse woanders hingeht: zum Publikum. Also schaue ich mit den nächsten Scheinen in der Hand ins Publikum. Ich lasse die Blicke wirken. Was kommt ist Aggression und Energie. Und der Wunsch in Kontakt zu treten. Nicht zu offensiv. Keinen Zwang daraus zu machen. Eher ein Angebot. Also Bleibe ich im Blickkontakt und beginne, einzelne Schnipsel von frisch zerrissenen Scheinen anzubieten. Ich gehe auf Leute aus dem Publikum zu und halte sie ihnen hin. Jetzt wird klar: was ich tue polarisier. Einige schauen mich mit starrer Mine an, lehnen die Schnipsel ab. Andere nehmen sie neugierig an. Ich höre, dass leise geredet wird. Eine Freundin, die im Publikum sitzt lehnt die scheine ab und ich sehe ihr an, dass es ihr nicht gut geht.

Die innere Aggression steigt und mir wird klar, dass diese Performance sich nicht nur um das Thema Geld, Wert und Verwendung dreht sondern auch um das Thema Gewalt. Ich erinnere mich an das Messer in meiner Tasche, hole es heraus, mache es mit einer Hand schwungvoll auf und zerschneide die nächsten Scheine sehr aggressiv. Wieder verteile ich die Schnipsel.

Während ich das tue schaltet sich das erste mal ein Zuschauer ein. „Stopp!“. Laut, deutlich, ernst gemeint. Ob ich das Geld nicht lieber den Helfern der Flüchtlinge geben will. Ich warte und lasse wirken, was passiert. Ich sehe ihn kurz an mache weiter. Er sagt „Also willst Du das nicht?“.

Ich mache weiter und werde in meiner Art, die Scheine zu zerschneiden immer offensiver, immer aggressiver; ohne jedoch theatral zu agieren. Kein übertreiben, kein zurückhalten. Immer versucht, performativ zum Ausdruck zu bringen, was die Aktion und der Kontakt mit dem Publikum mit mir machen. Ich bleibe Performer; kommuniziere bewusst ans Publikum, was an Emotionen, Gedanken und sonstigem innerlich da ist; mit den Mitteln, die ich mir gegeben habe. Es kostet Kraft so klar zu bleiben.

Ich reiße einen Schein an, gehe zu einem Mann im Publikum, halte ihm den Schein hin. Er nimmt ihn, ich ziehe an meiner Seite und der Schein zerreißt. Er hält eine hälfte in seiner Hand. So steigern sich sowohl die Aggression im Zerreißen als auch die Interaktionsangebote Schritt für Schritt.

Inzwischen sind etwa 20 Minuten vergangen. Das Publikum tuschelt und redet, die Stimmung ist sehr emotional. Ich mache weiter und bin selber gespannt wo es hinführt. Über die Hälfte der Schein ist weg, der Rest liegt nach wie vor als Stapel zwischen mir und dem Publikum. Nachdem ich einem weiteren Menschen Schnipsel gegeben habe, wende ich mich kurz vom Publikum ab um zu meinem Stapel zurück zu gehen. In diesem Moment sehe ich aus dem Augenwinkel, das eine Zuschauerin aufgestanden ist und das Geld wegnimmt. Es ist die Freundin, die vorher die zerrissenen Scheine abgelehnt hatte und die mit laufender Performance zunehmend schlechter aussieht. Sie setzt sich wieder hin. Ich lasse – in diesem Moment sehr dankbar um meine Vorbereitung – wirken was innerlich passiert. Ich spüre, dass ich emotional aufgewühlt bin und mich die letzten 20 Minuten extrem angestrengt haben. Ich schaue auf die Stelle, an der das Geld lag und sehe einen Haufen zerrissener Geldscheine.


Ich lasse kommen, was kommt, immer im Bewusstsein, dass ich eine Performance mache und dass ich es einfach performativ umsetzen werde. Es ist eine riesen Herausforderung. Es kommt eine Frage. Ohne sie abzuwägen stelle ich sie ruhig und direkt an die Frau die das Geld genommen hat: Und was machst Du jetzt damit? „Irgendetwas Besseres werde ich auf jeden Fall finden!“ sagt sie offensichtlich aufgewühlt.

Ich spüre: das ist das Ende der Performance. Langsam drehe ich mich um und gehe. Ich höre verhaltenen Applaus, drehe kurz um, gehe zurück, verneige mich und gehe dann zum Backstage Bereich. Ich setze mich hin und brauche einige Minuten um mich zu beruhigen.



Heute, zwei Tage später, wirkt die Performance immer noch nach. Auf sehr unterschiedliche Arten. Egal mit wem ich darüber ins Gespräch komme: sofort wird die Unterhaltung emotional. Sofort lerne ich etwas über meine Gesprächspartner; ihre Werte; ihren Umgang mit Geld; und über mich.

Ein Feedback direkt nach der Performance von einer Zuschauerin ist: „Ich hatte ja Lust, mein eigenes Geld zu nehmen und mitzumachen.“

Die Freundin, die das Geld genommen hat, will es meiner Lebensgefährtin, die im Publikum ist, nach der Performance zurückgeben. Sie möge es mir geben, aber nur, wenn ich es nicht zerstöre. Meine Lebensgefährtin lehnt ab. Als ich die Freundin nach der Performance treffe sage ich ihr, dass es ihr Geld sei. Sie habe eine Entscheidung gefällt und müsse jetzt auch entscheiden, was damit passiere. Es sind – dass erfahre ich, weil ein anderer aus dem Publikum gefragt hatte – noch 105 Euro übrig. Sie wird es an Refugio in München spenden. Ich bekomme am Tag darauf eine SMS von ihr und ertappe mich dabei, wie ich mich freue dass ein Teil des Geldes jetzt doch „sinnvoll“ angelegt ist. Ich muss lachen.

Aus den Feedbacks und Diskussionen erfahre ich, dass die Performance bei den meisten viel ausgelöst hat. Sehr Unterschiedliches, aber immer emotional. Ich freue mich, denn es war definitiv die anstrengentste Performance bisher.

Text: Tom Tiller
Bilder: Christine Bombosch
© Bilder: urban-absurdity.com

Danke an Christine Bombosch & Martin Ostenrieder für die Unterstützung bei der Konzeptentwicklung.
Danke an Christian Oettinger für die Initiative zu und die Organisation von OFF, einem wunderbaren und ernst-heiteren Festival.


Samstag, 24. August 2013

Mann trägt Herz barfuß


Ich komme zurück in die Wohnung, schließe die Tür hinter mir und fange an zu weinen. Gerade habe ich im Hof ein Schweineherz in die Biotonne geworfen und eine weiße Leinenserviette mit Blutflecken, in die es eingewickelt war direkt in die Tonne daneben. Was macht man mit einem Herz, das Teil einer Performance war?

Das Herz hatte ich dreieinhalb Stunden vorher bei einem Metzger an der Eberswalder Straße gekauft, wo ich es drei Tage zuvor bestellt hatte. Weil ich explizit ein „schönes“ und im Stück bestellt hatte bekomme ich in einer Edelstahlschale sechs Schweineherzen „vorgeführt“; von denen ich mir eines aussuchen kann. Ich nehme ein kleines, fast unversehrtes. Ein Euro Vierzehn. So viel kostet ein Schweineherz.


Die Idee dazu reift seit Monaten. Ein Bild auf der Straße. Ursprünglich sah es anders aus. Aber mit jedem Mal sich damit beschäftigen wird es klarer. In Anzug und Krawatte, barfuß ein Herz durch die Straße tragen. Mich dabei auf den Moment einlassen. Ein Schweineherz, weil es dem menschlichen Herz am ähnlichsten ist.

Ich bin zwei Wochen in Berlin, um ein paar Leute zu treffen, gemeinsam performance practice zu machen und selbst ein paar Performances anzuschauen. Ich kann Lydia, eine Freundin aus München, die gerade in Berlin ist und Meltem eine Berliner Künstlerin gewinnen, mich zu begleiten. Das Bild ist mir zu krass, um es ohne Begleitung und Außenreferenz zu machen.

Gestern, einen Tag bevor ich das Herz tragen werde, habe ich immer noch kein passendes Ende für die Performance. Ich finde eine „Notlösung“, falls sich das Ende nicht von alleine ergibt: ich werde eine weiße Stoffserviette dabei haben. An einem geeigneten Ort werde ich das Herz auf der Straße auf die Serviette legen, die Serviette einschlagen, das Päckchen so liegen lassen und gehen. Tatsächlich wird das auch das Ende sein. Und natürlich ist es die Situation, zu der ich danach von Lydia und Meltem das Feedback bekommen werde, dass sie es sich anders gewünscht hätten.


Um viertel nach Drei treffen wir uns in einem Café in der Nähe des Hauses vor dem ich beginnen will. Ich erkläre, an welchen Stellen ich welche Unterstützung brauche; und wie ich mich im Notfall bemerkbar machen würde, wenn ich die Beiden zum Intervenieren in der Performance bräuchte. Zum Glück wird dieser Fall nicht eintreten.

Um 15:45 Uhr stehen wir vor dem Haus, das im offenen Vorgarten einen Busch hat. Dahinter ziehe ich meine Schuhe aus, setze eine andere Brille auf und hole das Herz heraus. Wieder (wie schon beim Metzger) bin ich überrascht wie klein es ist.

Ich gehe los. Die Straße entlang. Schaue das Herz in meinen Händen an und fühle das kühle Fleisch. Die Anspannung, die mich den ganzen Vormittag begleitet hat fällt ab. Es ist zuerst überraschend unspektakulär. Erst als ich an den ersten Cafés vorbeikomme, bemerke, dass ich auffalle und schnappe immer wieder Kommentare auf. Langsam schaffe ich es, die Situation komplett zu meiner Wirklichkeit zu machen. Ich spüre die warmen Pflastersteine unter meinen Fußsohlen, das Herz in meiner Hand, meinen Atem, dem sich die Schritte immer mehr anpassen.

Und dann spielt das „Außen“ keine Rolle mehr. Ich gehe. Mein Blick auf das Herz gerichtet. Ich weiche den Menschen nicht aus, sie weichen mir aus. Ich gehe an Caféterrassen, an Menschengruppen und an Müttern mit ihren Kindern vorbei. Ich nehme war dass sie da sind. Mehr aber auch nicht. Und: Es macht sich Trauer breit. Nicht um etwas Konkretes. Die Grundstimmung dieser Performance verdichtet sich zu Trauer.

Nach einer Weile nehme ich eine dicke, grünschillernde Fliege wahr, die auf dem Herz sitzt. Ein paarmal versuche ich sie mit dem Daumen zu verjagen, dann kommt noch eine. Es werden immer mehr, bis ca. 10 dieser Fliegen auf dem Herz sitzen. Erst ärgere ich mich, dann merke ich, dass auch sie einfach zu diesem Bild gehören und ich sie akzeptieren werde. Ich ekele mich und dieser Ekel vermischt sich mit der Trauer.


Eine gefühlten Ewigkeit später komme ich an die Kreuzung, bei der ich geplant hatte, das letzte Mal abzubiegen und noch zwei Häuserblocks weiterzugehen. Ich bleibe stehen und schaue mich in alle Richtungen um. Es sind inzwischen so viele Fliegen, dass mein einziger Impuls ist: Beenden. Ich entscheide: Weitergehen. Das ist das Bild und die Fliegen gehören dazu. Also biege ich wie geplant in die Straße ein. Die Straße ist noch voller als die davor und sehr eng, weil überall Tische und Stühle stehen.

Nach ein paar Häusern komme ich an einen Teil des Gehsteigs, der breiter ist und an dem keine Tische stehen. Ich sehe eine Laterne und weiß, dass ich das Bild hier beenden werde. Ich bin heilfroh, dass ich mir ein Ende überlegt habe, auch wenn es nicht das Ideale ist. Eigentlich müsste ich jetzt hier stehen und warten was der Moment und die Situation mir bringen. Nur, jetzt wo ich stehe, kreisen alle Fliegen –inzwischen sicher 30 oder mehr- um das Herz und um mich. Also hole ich die Serviette aus der Tasche, breite sie aus, lege das Herz mit bedacht darauf, schaue dieses Bild an. Sehr lange, wie ich finde. Dann falte ich Serviette zusammen, halte meine Hände, hockend, kurz auf das weiße Päckchen. Ich stehe auf und gehe über die Straße weg. Auf der anderen Straßenseite, noch ein Stück den Gehweg runter ist ein Baum. Hier entspanne ich mich und komme langsam ins Hier und Jetzt der „normalen“ Welt zurück.


Wie schon so oft merke ich jetzt erst, wie anstrengend die ganze Sache war. Meltem gießt mir Wasser über die eingeseiften Hände. Lydia kommt hinterher mit der Tüte, in die sie –nach meinem Weitergehen– das Herz gesteckt hat. So war es ausgemacht. Ich sehe das blutige, weiße Tuch. Ich ziehe meine Schuhe wieder an, setze die andere Brille auf, ziehe die Krawatte aus. Aus dem Eingang des nächsten Hauses kommt eine Frau, schaut uns zu und sagt „Wieder als privat verkleiden.“ Ich verstehe nicht, ob sie die Performance gesehen hat, oder wie sie es sonst meint. So oder so hat sie recht.

Die Performance ist zu Ende. Lydia, Meltem und ich gehen noch einen Kaffee trinken. Es ist spannend zu hören, was sie zu erzählen haben. Sie haben alles von außen beobachten können. Das Bild, die Reaktionen, Ihre Eindrücke. Ich bin froh, dass ich das alles höre, denn ich selbst habe fast gar nichts davon mitbekommen.


Und natürlich kommen wir auf den Schluss zu sprechen. Zu schnell, sie hätte sich all das länger gewünscht, meint Meltem. Die weiße Serviette hätte nicht gepasst, sie sein ein Bruch des Bildes gewesen, ich hätte das Herz lieber direkt ablegen sollen, sagt Lydia. Beiden kann ich zustimmen. Und mir wird wieder klar, dass ich mich –trotz der unangenehmen Fliegen und des Ekels und der Erschöpfung– mehr auf den Moment verlassen hätte sollen. Es wäre alles da gewesen.


Ich bin sehr Froh um das Feedback und das Gespräch mit den beiden. Ohne diese Rückmeldungen hätte ich keine Ahnung, wie das Bild von außen gewirkt hat; ich würde nur meine temporäre Wirklichkeit kennen: mit einem Herz in meiner Hand eine halbe Stunde barfuß durch die Straße zu laufen.


Video mit Eindrücken unter www.urban-absurdity.com.

Danke, Lydia für Unterstützung, Filmen, Rückmeldung
Danke, Meltem für die Unterstützung und die Rückmeldung

© alle Bilder & Videosequenzen: Lydia Starkulla, Holzkirchen & Tom Tiller, urban-absurdity.com
© Idee und Konzept: Tom Tiller, urban-absurdity.com


Donnerstag, 13. Juni 2013

Schwarzer Mann - ein persönlicher Bericht


Die Idee ist simpel: Ein komplett in schwarz gekleideter Mann mit schwarzer Stoffmaske über dem Gesicht und schwarzen Handschuhen geht durch die Straße. Vom Menschen darunter ist nichts zu sehen. Es bleibt eine schwarze Figur. Im Schatten ist es nur eine sich bewegende Silhouette eines Anzugträgers mit Hut. Der schwarze Mann, wie wir ihn aus dem Kinderspiel „Wer hat Angst vor dem Schwarzen Mann“ kennen, vor dem wir als Kinder schon im Spiel mit sanfter Panik davongelaufen sind und der von Kindesentführungen über unterschiedliche Gewaltverbrechen bis zum Ausrauben alter Damen für alles herhalten muss, was wir eigentlich nicht mit konkreten Personen in Verbindung bringen wollen.



Donnerstag Nachmittag in der Innenstadt von München. Lydia hat sich dankenswerter Weise bereit erklärt, zu filmen und zu dokumentieren. Wir treffen uns im Bon Valeur auf einen Kaffee. Dann ziehe ich mir direkt ums Eck -schon vor laufender Kamera- die Gesichtsmaske über, den Hut auf und die Handschuhe an. 

In diesem Moment fällt jede Nervosität komplett von mir ab. Es ist anders als bei anderen Aktionen. Ich bin nicht sichtbar. Nach ca. fünf Minuten gehen und mehreren Erinnerungen an mich selbst verstehe ich langsam, dass ich alle anderen hemmungslos anschauen kann, weil mich keiner sieht. Im Laufe der insgesamt 30 Minuten muss ich mich immer wieder daran erinnern. Es ist so in mir drin, dass ich Menschen nicht einfach nur unverhohlen anschaue...



Das erstaunlichste: Kaum jemand nimmt mich war. Es werden mehr, als ich nach einer Aufforderung von Lydia deutlich langsamer gehe. Noch erstaunlicher: Die meisten, die mich sehen schauen sofort auf den Boden und scheinen den Kontakt zu meiden. Auch wenn mein Kopf gar nicht in ihre Richtung gedreht ist. Erst auf dem Filmmaterial sehe ich, dass sich viele noch einmal umdrehen, sobald sie mich von hinten sehen. Angst vor Konfrontation? Ich weiß es nicht. 

Ein einziges Mal geht ein Mann -meine Statur, mein Alter, auch im Anzug- fast direkt auf mich zu und bricht den Blickkontakt erst ab als er sehr knapp an mir vorbei geht. Ich vergesse, dass er meine Augen gar nicht sehen kann; taxiere ihn und halte den Augenkontakt bis zum Schluss. Wohl fühle ich mich dabei nicht. Ohne Maske wäre das ein aggressiver Akt. Erst danach erinnere ich mich wieder: Ich bin nicht sichtbar!



Lustig ist es, den vielen Frauen in Burka zu begegnen, die definitiv länger und direkter schauen, als andere. Kurz habe ich die Sorge, dass sie es als Kritik auffassen könnten, merke aber schnell: das ist „mein Film“.

Ein Kind sieht mich, fängt das Heulen an und versteckt sich hinter seiner Mutter. „Entschuldigung“ möchte ich sagen, tu’s aber nicht, weil ich denke, dass es die Situation nur noch schlimmer machen würde.

Nach ca. 30 Minuten und dem Weg vom Stachus über den Marienplatz zum Odeonsplatz reicht es mir. Ich biege in eine Seitenstraße, suche mir eine Einfahrt und verschwinde darin. Erst als ich die Mütze vom Kopf ziehe merke ich, wie heiß mir ist. 



Danach sitzen Lydia und ich noch im Kaffee und unterhalten uns, wie man die Reaktionen der Leute besser, aber unauffälliger einfangen kann. Langsamer gehen, zwei festinstallierte Kameras, sich nur in deren Sichtfeld bewegen. Definitiv ein Versuch wert. Allerdings merke ich auch, dass mein „Selbstverständnis“ solcher Aktionen stark geprägt ist von Performern wie Marina Abramović und anderen, die sich in erster Linie der Situation stellen; für die das „Festhalten“ oder Mitschneiden bestenfalls zu Doku-Zwecken dient. Auf der anderen Seite interessieren mich die Reaktionen der Menschen und ich freue mich sehr über das Videomaterial; erkenne, dass und wie man es besser machen könnte und verstehe, was Lydia meint. Warum also nicht beide Varianten ausprobieren? So oder so wird es den schwarzen Mann sicher noch öfter geben. 

Und insgesamt war es eine angenehm unspektakuläre Aktion.

Video mit Eindrücken unter www.urban-absurdity.com.

Danke, Lydia, für Unterstützung, Filmen, Rückmeldung und Anregungen.

© alle Bilder & Videosequenzen: Lydia Starkulla, Holzkirchen
© Idee und Konzept: Tom Tiller, urban-absurdity.com

Montag, 13. August 2012

Zeitunglesen

Ich stehe am Isartor. Es ist Nachmittag, ich komme gerade aus dem Globetrotter und warte an eine Fußgängerampel. Mir fällt eine Verkehrsinseln auf. Mitten in der Kreuzung. Kein offizieller Zugang für Fußgänger oder Radfahrer. Ein Un-Ort. Laut, ständig umspült vom Verkehr, ca. 6 Meter lang und vielleicht einen Meter breit. Ich bleibe eine Weile stehen und beobachte den Verkehr. Vier Spuren auf jeder Seite. Ständig fahren oder stehen Autos, die geradeaus fahren oder links abbiegen wollen. Eine komplizierte Ampelschaltung.

Dieser Fleck hat Aufmerksamkeit verdient. Die Idee: Verweilen. Einfach, weil dieser Ort so gar nicht dazu einlädt. Auf dem Heimweg überlege ich. Stück für Stück entsteht ein Bild: Ein Mann auf einem Stuhl. In Anzug mit Hut. Er liest Zeitung. Neben ihm ein Beistelltisch mit einer Tasse Tee oder Kaffee.


© Albert Kapfhammer

Die Requisiten dazu habe ich Zuhause. Einen Stuhl mit Trageriemen und einer Schublade. Der stammt von einem Performance-Konzept von Bernhard Eberle, einem befreundeten Kunstdrucker und Performancekünstler. Einen kleinen, weißen, klappbaren Beistelltisch für den Balkon samt weißer Tischdecke. Tasse, Thermoskanne mit Tee, Zeitung. Fertig.
Ich mache mich auf den Weg, den Stuhl auf dem Rücken, die Utensilien in der Schublade verstaut. Den Tisch trage ich. Zur U-Bahn, zum Marienplatz, in die S-Bahn und zum Isartor. Hoch an die Oberfläche und während einer Verkehrslücke auf die Verkehrsinsel.

Langsam und bewusst baue ich den Tisch auf, nehme Tischdecke, Tasse, Thermoskanne und die Zeitung aus der Schulblade im Stuhl, lege alles ordentlich hin, gieße mir Tee ein und stelle die Thermoskanne auf den Boden zwischen Stuhl und Tisch. Ich setze mich, schlage die Beine übereinander, nehme die Zeitung, schlage sie auf und beginne zu lesen.
Jetzt merke ich, wie nervös ich bin. Zum Lesen komme ich immer nur abschnittweise. Dann muss ich mich wieder auf meine Präsenz konzentrieren. Nach ein paar Minuten gebe ich das Lesen auf. Immer wieder – nicht zu oft – blättere ich um, lasse meinen Blick über die Zeitung wandern und „spiele“ einen Zeitungsleser. Das hat den Vorteil, dass ich auch ohne Blickkontakt aufnehmen zu müssen (das will ich nicht, weil es das Bild zerstören würde) wahrnehme, was um mich herum passiert.


© Albert Kapfhammer

Mir fällt ein, dass ich meine kleine Digitalkamera eingesteckt habe und ich stelle sie auf den Tisch, starte im Filmmodus. Erst danach, beim Ansehen des kurzen Videos (leider war die Speicherkarte nach ein paar Minuten voll) wird mir bewusst, wie nah ich am Verkehr sitze. Und wie viele Menschen dann doch schauen...

Immer wieder kommt es zu kurzen Dialogen. „Wie wird das Wetter morgen?“ ruft mir ein ca. 40 Jahre alter Mann aus einem roten Kleinwagen zu. „Gut!“ rufe ich zurück. Er lacht und fährt weiter. „Eine Kunstaktion, oder?“ „Ja“ ist der Austausch zwischen einem anderen Autofahrer und mir. „Wie isses?“ fragt eine Frau in einem Smart. „Gut, gut! Anders!“ Zu mehr komme ich nicht, sie muss weiter, die Ampel ist grün. 


© Albert Kapfhammer

Hinter mir hält eine Frau, zieht ihr iPhone und fotografiert. Ob ich die Zeitung nicht ein bisschen Höher halten könne? Kann ich. „Mehr mittig!“ Sie sei nämlich Fotografin. Ich drehe mich um und gebe ihr meine Karte: ob sie mir ein Bild schicken könne, ich hätte nämlich sonst keine. „Klar!“. Dann wird es grün, die Autos hinter ihr hupen, sie fährt weiter. Davor hat ein Radfahrer gegenüber angehalten und fotografiert. Auch ihn habe ich gefragt, ob er mir ein Bild schicken könnte. „Klar! Wohin?“ Ich hole eine Karte aus der Sakkotasche, laufe über die Straße, gebe sie ihm und laufe dann schnell wieder zurück. Er bleibt noch eine Weile stehen. Ich bin gespannt ob einer von beiden mir tatsächlich ein Bild schicken wird. Noch während ich das hier schreibe habe ich eine SMS auf dem Telefon: er habe die Bilder per Webdownload bereitgestellt. Ich freue mich.


© Albert Kapfhammer

Auch unvermeidlich an einer so zentralen Kreuzung: Immer wieder fährt Polizei vorbei. Sie scheinen alle so zu stehen, dass sie nicht direkt vorbeifahren können oder müssen. Wie schon beim letzten Mal gilt: wenn ich dazu aufgefordert werde, gehe ich. Ich will nicht provozieren. Das Hupen der hinteren Autos, wenn die vorderen nicht merken, dass die Ampel wieder auf Grün geschaltet hat, weil sie mich anschauen ist mir schon unangenehm genug. Nach ungefähr einer halben Stunden fährt eine Streife direkt an mir vorbei. Ich kann nicht anders, als ihnen hinterher zu schauen. Prompt machen sie an der nächsten möglichen Stelle kehrt und fahren jetzt direkt auf der Spur hinter mir vorbei. Kurzer Blaulichteinsatz. Ich weiß, jetzt kann es zu ende sein. Ich drehe mich nicht um, sondern lese weiter Zeitung. Sie machen wieder kehrt und bleiben diesmal genau vor mir stehen. Das Fenster geht runter.

Was ich hier tue, fragt mich ein freundlicher Polizist (ich bin erleichtert, dass tatsächlich Neugierde in seiner Frage mitschwingt). Neben ihm eine Kollegin. „Das ist eine Kunstaktion im öffentlichen Raum.“ Sage ich wahrheitsgemäß. Er schaut mich fragend an. „Ich verändere die Wirklichkeit für eine kurze Zeit. Bringe ein Bild in den öffentlichen Raum, das ungewöhnlich ist. Hier würde ja keiner Zeitung lesen...“. „Stimmt, deswegen sind wir ja neugierig geworden“ sagt er lächelnd. Ich bin mir immer noch nicht sicher, wie seine Reaktion ausfallen wird. Auf seine und ihre Fragen hin erkläre ich den beiden, dass das ganze von „urban absurdity“ ausgeht, einer Performance und Künstlergruppe, die temporäre Kunst im öffentlichen Raum machen, dass es die einzige Aktion ist, die gerade läuft und dass es nicht aufgezeichnet wird (was in diesem Moment zum Glück stimmt, denn die Kamera hatte ich schon weggeräumt, nachdem sie sich mit vollem Speicher verabschiedet hatte); dass ich seit 20:00 Uhr da säße und spätestens um 21:00 Uhr aufhören würde, weil es da ja dunkel werde. Kurze Pause. „Na dann“ sagt er, „viel Spaß noch!“ Ich bedanke mich und vertiefe mich wieder in meine Zeitung. Sie stehen noch kurz direkt neben mir, bis die Ampel grün wird und fahren dann weiter.


© Albert Kapfhammer

Ich bin erleichtert und merke wie angespannt ich während der ganzen Unterhaltung war. Ungefähr eine viertel Stunde später kommen sie noch einmal. Ich lächle sie an, sie fahren vorbei.

Gegen 20:45 Uhr ist es so dämmrig, dass Zeitung Lesen nicht mehr funktioniert. Ich packe langsam alles wieder in die Schublade im Stuhl, schultere ihn, nehme den Tisch und gehe über die im Augenblick lehre Fahrbahn zurück zum Isartor.


© Albert Kapfhammer

Irgendwie bin ich sehr erleichtert. Ich dachte, dass das eine vollkommen „ungefährliche“ Aktion sein würde. Deswegen hatte ich auch niemanden gebeten, mich zu beobachten. Jetzt erst merke ich, dass zwar immer eine Schicht Blech und der Zwang zügig weiter zu fahren zwischen mir und den Beobachtern im Auto stand, dass es aber doch eine sehr ausgesetzte Situation war. Die Menschen, die in der angrenzenden Fahrspur bei rot warteten, waren weniger als einen halben Meter von mir entfernt. Wären Sie nicht im Auto gesessen sondern nur so dagestanden und hätten geschaut, wäre mir das viel zu nah gewesen. Außerdem wusste ich nie genau, wer gerade auf der Fahrspur direkt hinter mir stand und wie diese Menschen schauten und reagierten. Auch das wird mir erst bewusst, als ich mich beim Weggehen umdrehe und sehe wie nah die Menschen mir im Rücken standen.




Jetzt, zwei Stunden später, schaue ich mir die Bilder an, die ich per Webdownload bekommen habe und freue mich, eine Außenperspektive zu haben. Ich schreibe eine SMS zurück, ob ich sie auf meiner Website verwenden darf. Ich darf. Danke.


Eher meditativ: ein paar Eindrücke aus meiner Perspektive...


© Text: Tom Tiller, München.
© alle Bilder: Albert Kapfhammer, München.

Text und Bilder dürfen nicht ohne schriftliche Genehmigung ganz oder in Teilen verwendet oder vervielfältigt werden. Kontaktdaten und weitere Info über info@urban-absurdity.com.


Donnerstag, 3. Mai 2012

Reichbetteln

Kniend, in Anzug und Krawatte, teure Schuhe, offensichtlich gut gelaunt, ein schlecht geschriebenes Pappschild mit der Bitte um Hilfe vor sich, obwohl man offensichtlich weder arm ist noch Hilfe nötig hat und das in der reichsten Straße Münchens. Was passiert? Wer reagiert? Und wie? Das ist die Ausgangsidee.


3. Mai 2012, 11:00 Uhr, ich setze mich hin. Davor hat mich Susie Wimmer unterstützt, die richtigen Worte für das Schild zu finden: "BITTE" und dann klein weiter "geben Sie mir kein Geld! Kunst!". Ich wollte mehr schreiben, aber die Kürze ist gut. So haben Passanten die Möglichkeit, das Schild im Vorbeigehen zu lesen. Es ist klar, und bleibt doch offen genug.


Nach wenigen Minuten hält der erste an. Er spricht kaum Deutsch, fragt neugierig nach. Ich bin gezwungen zu entscheiden, wie ich reagieren will. Ich entscheide mich, freundlich und ehrlich zu sein; keine "Rolle" zu spielen. Das ist nicht das Ziel der Aktion. Wie sich später herausstellt eine gute Entscheidung. Ein weiterer Bruch, denn die offene, friedliche Art geht bei vielen weder mit Betteln noch mit Kunst zusammen. "Hast Du Arbeit?" "Ja!" "Warum sitzt Du hier?" Ich versuche es ihm zu erklären. Es dauert eine Weile. Nachdem er verstanden hat, was ich tue, schaut er mich lange an und fragt dann: "Kennst Du Jesus?" ich nicke. "Jesus ist wahre Kunst!" sagt er, verabschiedet sich freundlich und geht weiter.


10 Meter links von mir steht plötzlich eine Gruppe von 3 Polizisten. Ich schaue fragend auf die andere Straßenseite, wo Susie Wimmer sitzt, die sich bereit erklärt hat als eingeweihte Beobachterin mitzumachen. Die Vereinbarung: nur eingreifen, wenn es wirklich brenzlig wird. Bei Gewalt etwa. Ich bin das erste mal froh, dass sie da ist und ich Kontakt aufnehmen kann. Von ihr kommt keine Reaktion. Das beruhigt mich. Die Polizisten schauen in die andere Richtung. Mir ist klar, dass die Aktion sehr schnell zu Ende sein kann. Ich hatte beschlossen, nicht in den Widerstand zu gehen. Wenn mich jemand auffordert würde zu gehen, ginge ich anstandslos. "Schade", denke ich mir, wenn es jetzt gleich wieder vorbei ist. Immer wieder schaue ich zu den Polizisten. Die schauen weiterhin in die andere Richtung. Nach ca. 10 Minuten überqueren sie die Straße und gehen weg. Wenn sie auf meiner Straßenseite geblieben wären, hätten sie direkt an mir vorbei müssen. Das wollten sie offensichtlich nicht. Ich bin froh. Es geht weiter.


Viele gehen vorbei ohne Blickkontakt mit mir aufzunehmen. Ich lasse den Leuten immer Zeit, das Schild zu lesen, bevor ich sie anschaue. Die meisten schauen in dem Moment, in dem ich sie anschaue, sofort weg. Mit unterschiedlichen Gesichtsausdrücken. Weil ich sie sehr spät ansehe, weiß ich nie, was sich ab dem Zeitpunkt abspielt, ab dem sie mich wahrnehmen. Wie ich danach von Susie und Christine Bombosch (die auch zum Zuschauen gekommen ist) erfahre, ist es bei den meisten sehr ähnlich: Sie nehmen mich war, die Miene versteinert sich, sie gehen vorbei und schauen starr nach vorne, sobald ich den Blickkontakt suche. Einige gehend murmelnd oder kopfschüttelnd weiter, Paare tauschen sich mit verständnisloser Miene aus. "das ist doch keine Kunst. Der will uns wohl verarschen!" sagt ein Paar hörbar.


In den gesamten 45 Minuten gehen etwa 10 Menschen vorbei, die sich trauen, den ganze Text in Ruhe zu lesen. Sie lächeln und gehen weiter. Beim Rest erkenne ich in der Bewegung oft den Zwiespalt, stehen bleiben zu wollen und genau zu schauen und dem Impuls nachzugeben, weiter zu gehen; ich vermute, weil die Situation auf den ersten Blick nicht "einzuordnen" ist. Das ist gefährlich. Ich bleibe freundlich, egal was passiert. Obwohl es immer wieder eine Stimme in mir gibt, die sagt: Du musst die Menschen viel stärker und aktiver reizen. Ich widersrstehe. Nur so haben sie ein Chance selbst zu entscheiden, wie sie auf den Anblick reagieren wollen.


Mutter und Tochter kommen vorbei und bleiben stehen. Nach ca. 25 Minuten die zweiten, die neugierig sind und nachfragen. Ich erkläre wieder geduldig, was ich hier tue. Es dauert ein Weile, dann hat die ca. 12 Jahre alte Tochter Feuer gefangen: "Das mach ich auch, Mama!" Sie setzt sich in den Bogen neben mir und hält die Hände auf. Ich muss mich beherrschen, nicht laut loszulachen. Ihre Mutter scheint kein Problem damit zu haben, sie unterhält sich weiter mit mir. Ich wüsste in dem Moment gerne, was wir zu dritt für ein Bild abgeben.


Irgendwann fährt ein UPS Wagen vor und hält direkt vor mir. Der Fahrer steigt aus und schaut mich ungläubig an. Er liest das Schild, fragt nach, findet die Aktion gut. Nachdem er seine Päckchen ausgeliefert hat ratscht er noch eine Weile mit mir. Mutter und Tochter sind auch noch dabei. Er fragt ob er mich fotografieren darf. Er darf. Ob er es veröffentlichen darf. Er darf, wenn er meine URL dazu schreibt. Er schreibt sie sich auf. Dann steigt er lachend ein und fährt weiter. Nach einer Weile hat die Mutter ihre Tochter überzeugt, weiter zu gehen. Die will noch nicht: sie hätte noch nichts eingenommen. Dann will sie mir etwas geben. Ich lehne dankend ab. Die beiden verabschieden sich und gehen.


Weil ich direkt an einer Trambahn Haltestelle sitze müssen viele ganz in meiner Nähe warten. Auch der Herr, der mein Schild komplett anders deutet: "Kein Geld, sondern Kunst, hm? Und hat Ihnen schon jemand Kunst gegeben?" Er hat 5 Minuten Zeit, sich über Kunst auszulassen. "Beuys hat ja gesagt, jeder ist ein Künstler". Ich nicke. Die Trambahn kommt, er steigt ein und fährt. 


Einer der Passanten, die das Schild ganz lesen und lächeln, kommt nach einer Minute wieder zurück, legt mir 2 Euro Auf die Pappe, auf der ich knie und meint lachend: "Damit die Kunst nicht brotlos ist". Ich lache auch. Das Geld bekommt später ein Bettler.


Die meisten reagieren  verhalten neugierig und vorsichtig. Eine ca. 55 jährige Frau in einem großen, silbernen Merzedes bremst abrupt, als sie mich sieht und steht eine ganze Weile ungläubig da. Sie versucht mein Schild zu entziffern. Ich gebe mir keine Mühe, es ihr leichter zu machen, schaue sie nur freundlich an. Immer wieder fährt sie ein paar Zentimeter weiter und schaut wieder ungläubig. Nach einer Minute fährt sie kopfschüttelnd weiter. Es macht mir richtiggehend Freude die Leute vollkommen freundlich anzusehen, sie aber nicht bei der Einordnung der Situation zu unterstützen. Sie müssen schon fragen. Radfahrer schauen sekundenlang nicht nach vorne beim vorbeifahren. Wenn Trambahnen halten, starren mich die Fahrgäste mit regungsloser Miene solange an, bis die Trambahn wieder anfährt und ich sie nicht mehr sehe. Ich schaue freundlich zurück. 


Nach 45 Minuten klingelt mein Telefon. Ich hatte es so eingestellt. Ich tue so, als würde ich ran gehen. Susie hat später einen Termin und ich möchte unbedingt noch mit ihr und Christine reden, um zu erfahren, wie es von außen gewirkt hat. So ist die Zeit begrenzt. Auf der einen Seite finde ich es schade, als die Zeit um ist, weil es viel zu spannend ist, um aufzuhören. Auf der anderen Seite bin ich froh und merke jetzt erst, wie sehr die Aktion mich anstrengt; wie konzentriert und angespannt ich bin. Ein Teil von mir war die ganze Zeit damit beschäftigt sicher zu stellen, dass ich friedlich bleibe, Kontakt zulasse und keine Zweifel aufkommen lasse.


Ich stehe auf, packe meine Pappe zusammen und gehe erleichtert um die Ecke. Dort warten Susie und Christine. Die Spannung fällt ab.



Wir sitzen eine halbe Stunde im Café und unterhalten uns. Über die möglichen Ängste, die die Aktion bei Menschen ausgelöst haben könnte. Über die unterschiedlichen Reaktionen. Über die wenigen Passanten, bei denen ich mich nicht wohl gefühlt habe; die, von denen ich vermute, dass sie selbst sehr arm sind aber nie betteln würden. Denen will ich sagen: "Ich mache mich nicht über Euch lustig!", sage aber natürlich nichts. Darüber, dass ich mich bei vielen Passanten dabei ertappe, wie ich Annahmen anhand ihrer Kleidung, ihrer Autos, ihres Verhaltens bilde...

Die drei Polizisten vom Anfang gehen am Café vorbei. Sie erkennen mich. Ich schaue sie lächelnd an, sie schauen mit versteinerter Miene weg. Ich stelle fest, dass ich nie herausfinden werde, was die Menschen wirklich empfunden und gedacht haben bei meinem Anblick. "Damit musst Du leben!" sagt Susie lachend. Stimmt! 

Susie gibt mir meine Kamera zurück, mit der sie Fotos gemacht hat. Wir verabschieden uns. 
Die Aktion ist zu Ende.

Text: Tom Tiller
Alle Bilder: Susie Wimmer
© Bilder: Susie Wimmer & Tom Tiller

Danke an Susie für die Unterstützung, die richtigen Fragen, die Außenreferenz und die Fotos.
Danke an Christine für die Unterstützung und den Austausch.